Sonntag, 25. April 2010

Warten oder Starten?

Entsprechend dem Yin-Yang-Prinzip gibt es unterschiedliche Reaktionen auf Situationen.
Die Menschen, die eher träge sind, älter sind oder genügend Geld haben, die fügen sich leichter in ihr Schicksal und warten. Die Menschen, die selbstständig sind, die genau rechnen müssen, die keine Absicherung haben oder von denen viel abhängt, die werden aktiv und starten. Und keiner weiß, was richtig ist: warten oder starten.
Eigentlich war für mich alles im Fluss. Ich hatte eine wunderschöne, stille Woche in Gran Canaria erlebt und befand mit nun auf dem Rückweg nach Hause. Wie viele andere Menschen auch hat mich das Aussetzen alle Flüge Mitte April 2010 in meinem Lebensrhythmus völlig überraschend ausgebremst. Plötzlich war da die Frage zu beantworten: Muss man diese Situation aussitzen oder sollte man alles selbst in die Hand nehmen? Ich habe beides erlebt.

Als im Flughafen stehend klar wurde, dass der Flieger nach Frankfurt nicht starten würde, auch nicht auf absehbare Zeit starten würde, konnte ich das erst nicht glauben. So etwas passiert einfach nicht in unseren wohlorganisierten Landen. Die zweite Reaktion war die Erwartung, dass die Fluggesellschaft sich ‚darum‘ und um uns kümmern würde. Diese Versorgt-werden-Haltung wurde anfangs erfüllt. Recht schnell und umsichtig sammelte die Fluggesellschaft die stehen gebliebenen Fluggäste ein und lud sie in einem großen Hotel ab. Dort war man dann erst einmal aus der ‚Schusslinie‘ und wurde versorgt. Im Laufe des Tages und in den nächsten Tagen trafen im Hotel immer mehr Leute ein. Es wurde eine bunte Mischung aus Individualreisenden und Pauschalreisenden. Das gemeinsam Erlebte ließ ein solidarisches Gefühl mit anderen entstehen, und sogar die sonst oft ablehnende Haltung gegenüber anderen Gesellschaftsschichten, Alter usw. überwinden. So bildeten sich immer mehr kleine Gemeinschaften bis hin zu Freundschaftsgruppierungen. Für mich war das ein komplettes Gegenprogramm zu meiner Stillewoche zuvor. Die Tage waren jetzt von der Suche nach Informationen und den Gesprächen über die gegenwärtige Situation mit den anderen Reisenden bestimmt. Jede neue Information wurde mehrfach diskutiert, fast schon widergekaut. Das Leben war nun getacktet durch die Abstände der Termine, für die weitere Informationen versprochen waren: „Sie erhalten die nächste Information um 10.00 Uhr“, später 13.00 Uhr, dann 18.00 Uhr, am nächsten Morgen um 8.00 Uhr usw. Dazwischen war ein frei und doch nicht frei. Man konnte nicht wirklich entspannen. Zwar wurde für alles (U/V) gesorgt, und doch fühlte man sich eingesperrt. Das konnte man solange hinnehmen bis sich herausstellte, dass die Fluggesellschaft nun doch nicht für uns zuständig sei. Nun hieß es plötzlich, wir müssen uns um uns selbst kümmern. Wir hatten übers Internet bei TUI Fly gebucht. TUI Fly ist aber eine eigenständige Firma, mit der TUI fliegt. Die Firma TUI sei aber nur für die Pauschaltouristen verantwortlich. Wir waren nun ganz auf uns selbst gestellt. Ein weiteres Mal fielen wir aus dem Versorgt-werden-Himmel. Wir mussten für das Hotel selbst bezahlen und wurden nicht mehr informiert. Wie froh war ich über meine persönliche Informationsquelle, denn ich wurde von meiner Freundin telefonisch auf dem Laufenden gehalten. Ich befürchte eine enorm hohe Telefonrechnung. Tja, aber was nun tun? Waren wir zuvor schon ‚Gestrandete‘, so waren wir jetzt ‚allein-gelassen-Gestrandete‘. In den Telefonaten mit verschiedenen Fluggesellschaften wurde für mich das Ausmaß der Situation immer größer: der erste Flug, den ich bekommen könnte, wäre der 8. Mai, und dass natürlich auch nicht wirklich sicher. Keiner konnte wissen wie sich die Naturereignisse weiterentwickeln würden.

Die tendenziell eher passiven Leute, die meist auch finanziell unabhängig sind, sagten: „Besser abwarten. Das gibt sich bestimmt in den nächsten 2 Wochen.“ Die eher aktiven Leute wollten etwas tun, wollten wenigstens von der Insel runter und rauf auf das europäische Festland, um von dort irgendwie weiter zu kommen.
Was soll ich noch 2 Wochen lang auf dieser Insel machen? Diese ungewollt passive Situation nimmt mir aktivem Menschen die Kraft. Natürlich könnte ich mich beschäftigen, doch ist es nicht das, was ich will. Ich will aktiv werden. Diese ungewollte Zeit ist für mich eine verlorene Zeit. Ich bin innerlich angespannt und bereit sofort auf eine neue Information aktiv zu reagieren. Ich möchte nach Hause, denn dort warten meine Arbeit, meine Schüler, meine Kollegen und die Freunde auf mich. Als ich den ersten Schock überwunden hatte, stand die alles entscheidende Frage an: füge ich mich der Situation und den Bedingungen und warte ich? oder werde ich aktiv und schlage mich selbst nach Hause durch? Also führte der nächste Schritt zum Flughafen, um dort alles zu versuchen. Zum Glück musste ich nicht alleine fahren. Es formierte sich eine neue Gemeinschaft von aktiven und mutigen Menschen. Das Ergebnis war zwar wie befürchtet frustrierend, denn es gab keinen Flug nach Hause und es solle auch auf absehbare Zeit keine geben.
Als sich dann doch eine Möglichkeit bot nach Malaga zu fliegen, griffen wir sofort zu und hofften, dass das Flugzeug morgen nun auch wirklich starten möge. Es drohte noch immer die Gefahr, dass auch der Flughafen in Malaga schließen könnte. Ich habe nachts über die vor uns liegende Reise meditiert und mir freundliche und hilfsbereite Menschen auf dem Weg gewünscht, dass es immer irgendwie weitergehen möge und dass wir unser Ziel erreichen werden.

Der Abschied von den neu gewonnenen Freunden fiel unerwartet schwer. Obwohl wir uns erst seit drei Tage kannten und in Denken und Fühlen sehr verschieden sind, hatten wir uns gutgetan. Für die Zurückbleibenden war es, als würden wir mit diesem Flug und der unbekannte Weiterreise zu einer Expedition in unbekanntes Gebiet aufbrechen: in die Selbst-Aktivität und Selbst-Versorgung ohne wirkliche Erfolgsgarantie.

Eine Abenteuerreise quer durch West Europa.

Der Flug mittags nach Malaga klappte ohne nennenswerte Vorkommnisse. Schon keimte die Hoffnung auf in Malaga einen Anschlussflug zu bekommen. Keine Chance. Alle Schalter in der Abflughalle waren von langen Menschen- und Gepäckwagenschlangen umlagert. Es ist kein Weiterflug möglich. Mit etwas Mühe bewegen wir uns mit all‘ unseren Gepäckstücken zum Bus, der zum Bahnhof von Málaga fährt. Auch dort lange Schlangen vor den Fahrkartenschaltern. Ganz schnell wird klar, dass es auch hier im Grunde kein Angebot gibt. Wir finden heraus, dass es Busverbindungen in andere europäische Städte gibt. Also marschierten wir weiter zum Busbahnhof. Dort fragten wir uns durch und hatten dann Glück. Es gab einen Bus nach Barcelona, der noch am selben Abend um 21.30 Uhr abfuhr. Da war noch etwas Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen und Proviant einzukaufen, denn es wird eine lange Reise über ca. 1000 km und fast 15 Stunden. Wir kamen am nächsten Tag mittags in Barcelona an und mussten wieder herausfinden wie es weitergeht. Nach wie vor gab es in absehbarer Zeit keinen freien Platz in einem Zug nach Deutschland. Außerdem wurde die Bahn in Frankreich bestreikt. Das ist in diesen Zeiten ziemlich rücksichtslos von den Franzosen. Es gab auch keine infrage kommende Busverbindung. Frühestens Ende der Woche sollte ein Bus nach Norden fahren. Wir wussten nicht mehr weiter und wollten trotz gegenteiliger Informationen zum Flughafen fahren.

Ein Geschenk des Himmels

Und dann war sie plötzlich da: die aus dem Nichts kommende, unerwartete und doch ersehnte Chance. Ein Mann kam auf uns zu und fragte, ob wir einen Transfer nach Frankreich bräuchten. Er hätte noch sieben Plätze in einem Bus anzubieten. Auf Nachfrage erzählte er seine Geschichte: Er selbst ist Franzose, war mit Freunden in Urlaub und komme derzeit aus Marrakesch. Er war ca. 18 Stunden mit dem Bus unterwegs und ist jetzt hier gestrandet. Auf der Suche nach einer Weiterfahrmöglichkeit wurden sie von vielen anderen Leuten angesprochen, die in der gleichen Situation sind. Dabei wurde die Idee geboren, selbst einen Bus zu chartern. Ein befreundeter Geschäftskollege in Avignon wurde angerufen, der ein Busunternehmen hat. Dieser hatte ganz in der Nähe von Barcelona einen Bus stehen. Innerhalb von zwei Stunden konnte der vor Ort sein. In der Zwischenzeit sammelten sich immer mehr Gestrandete am Busbahnhof von Barcelona. Allen drohte das Schicksal in der Stadt ‚hängen zu bleiben‘ und schlossen sich jetzt diesem privaten Buscharter an. Es war unglaublich, aber wahr: uns wurden die letzten Plätze offeriert. Wir brauchten nicht wirklich zu überlegen und griffen wieder spontan zu. Die fast 50 Leute, mit denen wir fuhren, waren bunt gemischt in Alter, Gesellschaftsschicht, Nationalität und Farbe. Eine leichte und beschwingte Energie verband uns in diesem Moment miteinander. Alle waren froh über die Weitereise. Schnell noch einmal zur Toilette, Verpflegung eingekauft und hinein in den Bus. Die nächste Etappe nach Hause begann. Diese fast 4 Stunden im Bus kamen uns viel leichter vor als noch bei der ersten Bustour. Wahrscheinlich war es die Freude darüber, schon sobald über die Grenze und näher an Deutschland heranzufahren. Diese Etappe war recht angenehm.

In Avignon angekommen, loderten die inneren Stressflammen wieder auf. Wir wollten ursprünglich den Abendzug nach Straßburg vom Bahnhof in der Innenstadt nehmen, aber der Zug fuhr nicht. Er fiel wegen dem Streik der französischen Bahnangestellten aus. Der nächste Zug in diese Richtung würde erst am nächsten Morgen fahren. Das hieße aber, dass wir im Bahnhof warten und übernachten müssten. Das war mir gar nicht recht. Ich hatte den Eindruck, dass wir unbedingt in Bewegung, im Fluss bleiben müssten. Vom entfernten Fernbahnhof ging noch ein TGV Schnellzug nach Paris. Kurz entschlossen erreichten wir mit all‘ unserem Gepäck in letzter Sekunde den Bus zum Fernbahnhof und in letzter Minute den Schnellzug nach Paris. Die Erleichterung war groß. Wir bewegten uns mit einer hohen Geschwindigkeit fort. Vielleicht könnten wir sogar noch in dieser Nacht nach Deutschland weiterreisen?

Paris ist unfreundlich zu seinen unkonventionellen Gästen

Kurz vor Mitternacht kamen wir in Paris am Bahnhof Gare de Lyon an. Von hier fährt kein Zug nach Norden oder Westen, also mussten wir zum Bahnhof Gare de L’Est wechseln. Anfangs rollten wir noch mit unseren Koffer in Richtung Bastille und République, doch die nächtlichen Straßen von Paris erschienen uns irgendwie bedrohlich und wir entschieden uns schnell für eine Taxifahrt. Überrascht mussten wir feststellen, dass der Bahnhof Gare de L’Est verschlossen ist. Der Bahnhof ist eigentlich ein schönes Gebäude, der von einem schön gestalteten Metallzaun im Abstand von ca. 60 m eingerahmt wird. Die Tore im Metallzaun sind allerdings mit Ketten und Schlössern gesichert. Reisende müssen in der Zeit von Mitternacht bis 5.00 Uhr in der Früh vor dem Zaun stehen und völlig ungeschützt warten. Paris zeigt sich uns von einer sehr unfreundlichen und sehr ungastlichen Seite. Wir waren sehr müde und hatten Hunger. Außerdem war es sehr kalt. Wir wussten nicht wohin. Gegenüber versuchten wir in einem Bistro unterzukommen, doch dieses Bistro ist wohl das Schrecklichste, was einem Gast passieren kann. Der Kellner dort ist ein aggressiver, bissiger Rausschmeißer. Kofferreisende Zugreisende sind ihm ein Gräuel. Jeder Gast hatte bei Bestellung eines Getränks nur ca. 30 Minuten Zeit, bevor er entweder neu bestellen musste, oder er wurde von ihm auf bedrohliche Art und Weise rausgeworfen. Die Atmosphäre, der Schmutz und dieser gefährliche Kellner ließen uns die Flucht ergreifen. Da es keine Alternative im Umkreis des Bahnhofs gab, stellten wir uns mit unserem Gepäck vor eines der Tore im Metallzaun des Bahnhofs.

Wir standen dort nicht alleine. Mittlerweile hatten sich ca. 50 bis 70 wartende Reisende eingefunden. Am Gepäck war ersichtlich, dass sie alle von weit her kamen und sich ebenfalls auf einer Abenteuerreise nach Hause befanden. Keiner entfernte sich aus Sicherheitsgründen weit weg von seinem Koffer und dem Handgepäck. Noch sehr lange mussten wir warten, bis der Bahnhof geöffnet wurde. Wir waren sehr müde, und es war eisig kalt. Viele waren ja wie wir aus dem Urlaub im warmen Süden gekommen und deshalb nicht warm genug eingepackt. Außerdem hatten wir nicht erwartet draußen vor dem Bahnhof in der Kälte warten zu müssen. Alle warmen Kleidungsstücke wurden nach und nach aus dem Koffer geholt und angezogen. Da war es egal, ob das modisch schick aussah oder nicht. Die Kälte breitete sich trotzdem im Körper aus, und so bewegten sich alle fast schon gleichmäßig rhythmisch hin und her, um sich ein wenig zu wärmen. Nur langsam verging die Zeit.
Gegen 4.30 Uhr ging das Licht der übergroßen Uhr über den Haupteingang an und weckte unsere gespannte Erwartungshaltung. Dann endlich schritten zwei uniformierte Bahnangestellte würdevoll mit ihren Schlüsseln durch den Haupteingang in Richtung der Tore im Metallzaun. Welches würden sie zuerst öffnen? Die Reisenden schulterten ihre Rucksäcke, griffen ihre Koffer, warteten, drängelten dann durch die geöffneten Tore und strebten zum Haupteingang hin. Das Rollen der Koffer über das unebene Pflaster des Vorfeldes zum Bahnhof klang wie eine von den Reisenden selbstkomponierte Musik. Alle hatten nur noch ein Ziel: rein in das etwas wärmere Gebäude und eine Fahrkarten ergattern. Wir hatten noch Sorgen, dass der Streik des französischen Zugpersonals andauern könnte oder der Zug überbucht sein könnte. Mit Hilfe eines Mitreisenden konnten wir aber an einem Automaten unsere Fahrkarten bekommen. Das war ein Juchzen und einen Freudenstanz wert. Jetzt waren wir unserem Ziel ganz nah gekommen. Nur noch auf die Abfahrt des Zuges warten. Nach dieser Nacht war der erste Automatenkaffee einfach göttlich, und die ersten Croissants waren einfach himmlisch.

Ab nun gibt es nichts ungewöhnliches mehr zu berichten. Der deutsche Zug kam pünktlich und brachte uns nach ein paar Stunden Fahrt sicher nach Hause. Wir genossen es in drei verschiedenen Sprachen begrüßt und informiert zu werden, nicht wie in Frankreich, wo es nur eine Sprache gibt: die eigene. Endlich zurück in Frankfurt. Nach diesen drei erlebnisreichen Tagen on Tour mit Gepäck, dass nicht dafür gemacht ist, fast ohne Schlaf, wenig getrunken, um nicht zu oft zur Toilette gehen zu müssen, reich an wertvollen Begegnungen, hilfsbereiten Menschen und glücklichen Fügungen, bleibt jetzt nur noch der Wunsch nach einer ausdauernden Dusche, frischer Kleidung und ausdauerndem Schlaf. Vorläufig ist der Reisewille ganz still.

Hari AUM